Ex-Astronaut Claude Nicollier äussert sich zur F/A-18

Claude Nicollier

Claude Nicollier

Der Waadtländer Claude Nicollier hat in Lausanne und Genf Physik und Astrophysik studiert. Seit vielen Jahren ist er ein gefragter Redner und Berater. Bild ZVG Schweizer Armee

Der Professor und Ex-Astronaut Claude Nicollier erklärt, warum eine Armee ohne Luftverteidigung ihren Auftrag unmöglich erfolgreich erfüllen kann. Und warum es in Bezug auf den Entscheid über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge drängt.

Claude Nicollier, Sie sagen, dass wir an der Schwelle zu einem politischen Entscheid stehen, der für das Weiterbestehen der Luftverteidigung unseres Landes von grundlegender Bedeutung ist. Malen Sie nicht allzu schwarz?

Claude Nicollier: Meines Erachtens nicht, denn: Luftverteidigung ist nur möglich, wenn die dazu erforderlichen Mittel vorhanden sind. Die heutigen Systeme – Kampfflugzeuge und Flab-Systeme – werden in den nächsten Jahren ihr Nutzungsende erreichen. Werden sie nicht ersetzt, hat die Armee spätestens 2030 keine Mittel mehr, um den Luftraum zu schützen.

Die F/A-18 ist eine solide Maschine, und die Umsetzung der Massnahmen zur Verlängerung der Nutzungsdauer ist angelaufen. Wann ist der Punkt erreicht, dass das nicht mehr genügt?

Eine Verlängerung ist über 2030 hinaus und auf mehr als 6000 Flugstunden nicht sinnvoll. Es ist schon eine Herausforderung, diese Grenze zu erreichen! Der Schweizer Luftraum ist klein und eng. Schon wenige Minuten nach dem Start folgt der Einsatz; oft müssen enge Kurven geflogen werden. Die Kampfflugzeuge werden stark belastet. Der F/A-18 wird im Jahr 2030 fast vierzig Jahre alt sein, die darin verbaute Technologie noch älter. Damit wird sich gegen einen modern ausgerüsteten Gegner nichts mehr ausrichten lassen – ähnlich, wie es heute beim F-5 Tiger schon der Fall ist.

Sie erwähnen in ihrer Zweitmeinung zum Expertenbericht «Luftverteidigung der Zukunft» die Dringlichkeit: Ist es bezüglich der Sicherheit im Luftraum zum Schutz der Schweiz und ihrer Bevölkerung «fünf vor zwölf»?

Ja, mindestens. Gegenüber der ursprünglichen Ersatzplanung für die Kampfflugzeuge haben wir heute schon eine Verspätung von 15 Jahren. Deshalb musste ja auch die Nutzungsdauer der F/A-18 verlängert werden. In letzter Zeit scheinen sich die Probleme bei deren Betrieb allerdings zu häufen, was bedeutet, dass wir diese Flugzeuge mit der Nutzung bis 2030 wirklich an die Grenze bringen. Und da sollte man keine Zeit verlieren.

Zu Diskussionen führen wird die Frage der Flottengrösse der Kampfflugzeuge, welche für den Ersatz der F/A-18 vorgesehen wird. Sie betonen, dass man nicht minimalistisch vorgehen dürfe. Warum nicht?

Wenn wir nun das absolute Minimum der Flottengrösse beschaffen, wirkt sich jeder Defekt direkt auf den Leistungsumfang aus. Und wenn man hier entgegnet, man könne ja dann nachbeschaffen: Kampfflugzeuge werden ständig weiterentwickelt. Würden wir in ein paar Jahren denselben Kampfflugzeugtyp nachbeschaffen wollen, wäre genau dieselbe Konfiguration gar nicht mehr vorhanden.

Was heisst das in konkreten Zahlen?

Ich habe für die Option 2 plädiert, die rund 40 Kampfflugzeuge vorsieht. Je nachdem, wie die Flugzeuge die geforderten Aufgaben erfüllen und wie ihre Wartungszyklen aussehen, braucht es eben etwas mehr oder weniger Flugzeuge, um das geforderte Leistungsniveau zu erreichen.

Sie betonen, dass eine Armee ohne Luftverteidigung ihren Auftrag unmöglich erfüllen kann. Welche komplementären Mittel braucht es dazu und wie viele?

Es steht ausser Frage, dass Kampfflugzeuge nur in einem Gesamtsystem wirksam eingesetzt werden können. Es braucht auch ein System bodengestützter Luftverteidigung, mit dem unter anderem Objekte über längere Zeit gegen Bedrohungen aus der Luft geschützt werden können. Und es braucht natürlich Radaranlagen und weitere Sensoren, mit denen die Armee jederzeit über ein vollständiges Luftlagebild verfügen kann.

Wie sollte das Gleichgewicht zwischen Kampfflugzeugen und bodengestützter Luftverteidigung ausgestaltet werden?

Es liegen zwei finanzielle Eckwerte vor: 8 Milliarden Franken für beide Systeme, davon 6 Milliarden Franken für die Kampfflugzeuge – wenn das Volk diesem Entscheid folgt. Innerhalb dieser Eckwerte sollten wir versuchen, der Konfiguration, wie sie mit Option 2 vorliegt, so nahe wie möglich zu kommen.

In Ihrer Stellungnahme schreiben Sie, dass das Umfeld und die anspruchsvolle Topographie unseres Landes eine kombinierte Luftverteidigung erfordern. Ist es möglich, diese vollkommen autonom sicherzustellen?

In der Instandhaltung können wir nie völlig unabhängig vom Hersteller sein, ob es nun ein europäischer oder amerikanischer ist. Trotzdem müssen wir einen zweckmässigen Grad an Eigenständigkeit anstreben; hier muss die Evaluation Antworten liefern. Was die Autonomie im Einsatz betrifft, so muss es uns gelingen, den Luftpolizeidienst selbständig sicherzustellen und die Verteidigung im Konflikt zumindest einige Wochen aufrechtzuerhalten. Das gelingt nur mit einer kombinierten Luftverteidigung.

Wie stellen unsere Nachbarstaaten die Luftverteidigung sicher? Und wie halten es andere bündnisfreie Kleinstaaten?

Deutschland, Frankreich und Italien haben – als Nato-Mitglieder – ihre Fähigkeiten stark auf die Bündnisverteidigung ausgerichtet; sie alle haben aber gleichzeitig auch den Anspruch einer gewissen Autonomie. Das bündnisfreie Österreich versucht, im Rahmen der finanziellen Mittel seinen Luftraum selbständig zu schützen, will aber in Zukunft mehr auf eine europäische Verteidigungspolitik setzen. Die neutralen Länder Schweden und insbesondere Finnland streben eine hohe Eigenständigkeit an, was natürlich auch mit ihrer geopolitischen Situation zu tun hat. "One size fits all", das gibt es in der Luftverteidigung nicht.

Wie erklären Sie der Öffentlichkeit, dass unser Luftraum von strategischer Bedeutung ist?

Der Personen- und Güterverkehr ist auf einen sicheren Luftraum angewiesen. Zwei der wichtigsten Luftverkehrsstrassen führen über die Schweiz. Und der Luftraum kann nur genutzt werden, wenn er sicher ist. Jemand muss also kontrollieren, dass Luftverkehrsregeln nicht verletzt werden und dass sich nur im Luftraum aufhält, wer das darf und dabei die Neutralität der Schweiz nicht verletzt. Und diese Aufgabe kann nur die Luftwaffe übernehmen.

Ist es zielführend, wieder mit «Abhaltewirkung» zu argumentieren?

Wird der Schweizer Luftraum im Alltag als gut kontrolliert wahrgenommen, kommt es weniger zu Verletzungen der Luftverkehrsregeln – das ist wie beim Strassenverkehr. Im Falle eines drohenden Konflikts kann es in der Interessenabwägung eines Gegners entscheidend sein zu wissen, dass die Schweiz über eine funktionierende und wirksame Luftwaffe verfügt. Die beste Verteidigung ist die, die einen Gegner überhaupt von seinem Angriff abhält.

Und welches Anspruchsniveau ist dafür nötig?

Es geht darum, eine Durchhaltefähigkeit zu erreichen, mit der die Luftwaffe auch über eine längere Zeit erhöhter Spannungen einsatzfähig bleibt. Im Konfliktfall müssen sich auch Schwergewichte bilden lassen. Und mit einem Bodluv-System sollte ein permanenter Schutz über grössere Teile der besiedelten Schweiz gewährleistet werden können.

Man hört oft das Argument, dass man doch Kampfhelikopter anschaffen soll. Was sagen Sie dazu?

Kampfhelikopter sind ausschliesslich für die Feuerunterstützung von Bodentruppen ausgelegt. Sie eignen sich nicht für den Luftpolizeidienst, weil sie weder die Geschwindigkeit noch die Flughöhe erreichen, um etwa ein Linienflugzeug kontrollieren zu können. Und im Einsatz gegen Kampfflugzeuge wären sie ebenfalls zu langsam und nicht angemessen bewaffnet.

Und wie steht es mit Drohnen?

Gerade im Luftpolizeidienst fehlt ihnen das, was eben einer Drohne fehlt: der Mensch. Es ist oft entscheidend, dass der Kampfflugzeugpilot Blickkontakt mit dem Piloten des abgefangenen Luftfahrzeugs aufnehmen und sich mit ihm etwa über Handzeichen verständigen kann, wenn keine Funkverbindung besteht. Diese Aufgabe lässt sich mit einem unbemannten System nicht wahrnehmen.

Einzelne Politiker plädieren für «leichte Kampfflugzeuge». Können Sie das nachvollziehen? Und gibt es das überhaupt?

Ich kann nachvollziehen, dass man sich nach Alternativen umschaut. Aber leichte Kampfflugzeuge sind keine Lösung. Erstens sind sie eigentlich Trainingsflugzeuge, die genau dazu da sind: für das Training, nicht für den Einsatz. Sie können für bestimmte Aufgaben eine Kampfflugzeugflotte ergänzen, aber sicher nicht ersetzen. Nicht einmal der Luftpolizeidienst liesse sich mit ihnen erfüllen, von der Luftverteidigung ganz zu schweigen. Die Meinung, es gebe Maschinen, die günstiger seien in Beschaffung und Betrieb, aber gleichzeitig alles gleich gut können, halte ich für verfehlt – wo gibt es das schon?

Quelle: Schweizer Armee

18.2.2020