Mit der Revision, die das Parlament beschlossen hat, werden Erben künftig zur Kasse gebeten, falls Ergänzungsleistungen bezogen wurden – falls noch Geld übrig ist. So will der Bund pro Jahr rund 150 Millionen Franken zurückholen. Ein grundsätzliches Problem wird damit aber nicht gelöst: dass sich viele Menschen das Alters- und Pflegeheim nicht leisten können. Und die Pflegekosten steigen in den kommenden Jahrzehnten gemäss Prognosen noch drastisch. Der Effekt? Ergänzungsleistungen werden immer nötiger – ihre Finanzierung indes immer schwieriger.
Ein Pflaster schon in den 60er-Jahren
Laut Artikel 112 der Bundesverfassung muss die AHV-Rente «den Existenzbedarf angemessen decken». «Die Ergänzungsleistungen wurden 1966 als eine Art Pflaster geschaffen», sagt der Anwalt Ueli Kieser, der an der Universität St. Gallen Sozialsversicherungsrecht unterrichtet. Ein Pflaster, weil AHV und später Pensionskasse schon damals nicht immer ausreichten, um die Existenz im Alter zu sichern – entgegen der Bestimmung in der Verfassung, wonach die AHV existenzsichernd sein muss.
«Mit den Ergänzungsleistungen wurde eine neue Versicherung geschaffen. Man bezweckte damit, Altersarmut zu verhindern. Man sagte: Menschen, die mit der AHV-Rente ihr Leben nicht finanzieren können, sollen mehr Geld über die Ergänzungsleistungen bekommen, und zwar bis circa 3000 Franken pro Monat.»
2020: 4,7 Milliarden Franken Ergänzungsleistungen
Gemäss Prognosen des Bundesamts für Sozialversicherungen werden im Jahr 2020 4,7 Milliarden Franken an Ergänzungsleistungen ausbezahlt. An Menschen, die noch zu Hause wohnen, im Schnitt 6000 Franken pro Jahr. Viel mehr jedoch an Menschen, die in einem Heim sind: im Schnitt 32'000 Franken pro Jahr. Insgesamt werden 2020 gemäss Prognose des Bundes 363'000 Personen Ergänzungsleistungen beziehen, zur AHV oder zur IV.
Mehr als die Hälfte der 4.7 Milliarden Franken Ergänzungsleistungen gehen an Bezüger, die in einem Heim sind. Rund 2,7 Milliarden Franken pro Jahr. An Menschen zu Hause rund 2 Milliarden Franken.
Sozialversicherungsrechtler Kieser: «Für Menschen, die im Pflegeheim sind, sind Ergänzungsleistungen absolut zentral. Die wenigsten von uns können sich finanziell ein Pflegeheim leisten.»
Ueli Kieser, Titularprofessor für Sozialversicherungsrecht an der Uni St. Gallen
Die Schweiz hat das Problem bisher schlicht verschlafen.
Martin Eling, Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Uni St. Gallen
Schweiz hat Aufgaben nicht gemacht
In einer Studie aus dem Jahr 2019 hat Martin Eling, Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft, berechnet, wie die Pflegekosten künftig steigen dürften: Die Langzeitpflegekosten würden sich gemäss Referenzszenario bis ins Jahr 2050 verdoppeln, von heute 15,6 Milliarden Franken auf 31,3 Milliarden Franken pro Jahr. «Und wenn sich am Status quo nichts ändert, ist klar, was passiert: Die Ergänzungsleistungen werden explodieren.»
Heute kämen laut Eling drei Säulen für die Langzeitpflege auf: die öffentlichen Mittel – hier insbesondere die Ergänzungsleistungen –, die Sozialversicherungen – hier insbesondere die Krankenversicherer. Dritte Säule ist die Eigenbeteiligung der Versicherten. Da die Krankenversicherungen gedeckelt sind, lande der Druck der zusätzlichen Kosten laut Eling unweigerlich auf den Eigenbeteiligungen und später auf den Ergänzungsleistungen.
In Deutschland gebe es seit Mitte der 90er-Jahre eine eigene Sozialversicherung für das Thema Pflege. In der Schweiz habe man eine entsprechende Einrichtung verpasst.
Dabei hätte man dafür «die komplette Klaviatur der Möglichkeiten»: Man könne die Versicherung staatlich, privatrechtlich oder wie die AHV im Umlageverfahren organisieren. Man könne sie aber auch kapitalgedeckt machen, wie man es von den Pensionskassen kenne. «Freiwillig, obligatorisch, alle Varianten sind grundsätzlich denkbar und sollten diskutiert werden.»
Quelle: SRF
20.10.2019